Stefan Hofmann, Vorsitzender des Mainz 05, über die Bedeutung von Identifikationsfiguren, eine neue Harmonie beim lange krisengeschüttelten Bundesligaverein und die prägende des Bundesligaklubs im deutschen Fußball.

 

Nach Saisonende hat sich die Führung von Mainz 05 zu einem Strategietag getroffen. Wo soll es hingehen mit dem Klub nach dem bestandenen Kampf um den Klassenverbleib?

Es ging nicht um die große Strategie für die nächsten fünf oder zehn Jahre, sondern es ging dabei erst einmal um unsere Organisation, um interne Abläufe und Zuständigkeiten, um Fragen, welche Geschäftsbereiche bei welchen Geschäftsführern angesiedelt sein sollen, ob die Bezeichnung Geschäftsführer verändert wird und vieles mehr.

Haben Sie dennoch auch bereits eine Idee von einer großen Strategie?

Schon bei meiner Wahl habe ich klar kundgetan, dass es zunächst einmal gilt klar zu definieren, für was wir stehen als Mainz 05 und wo wir hinwollen. Dieser Prozess ist angelaufen. Wir wollen nach außen klar kommunizieren können, was steckt hinter unserem Verein, die Definition eines Markenkerns sozusagen. Nach innen ist es wichtig für unsere Arbeit im gesamten Verein allgemeingültige Leitlinien zu definieren. Eine klare Positionierung gibt Orientierung und bildet die Basis für eine stärkere Identifikation. Das ist wichtig für jedes Mitglied, für Fans und Sympathisanten, aber auch für uns als Verantwortliche.

Lag das alles brach in den Jahren vor Ihrer Wahl zum Vorstandsvorsitzenden?

Die Identifikation mit unserem Verein war in der Vergangenheit sehr stark an Personen orientiert. Herausragende Trainerpersönlichkeiten wie Wolfgang Frank, Jürgen Klopp und Thomas Tuchel, aber auch unsere langjährigen Führungskräfte Christian Heidel und Harald Strutz haben den Verein geprägt und für diese Orientierung und Identifikation gesorgt, ohne dass es irgendwo manifestiert, festgeschrieben oder gar klar nach außen in Form einer Strategie kommuniziert wurde. Insbesondere Christian hatte 05 im Herzen, im Kopf, überall. Er war Mainz 05. Logischerweise entstand durch seinen Weggang nach Schalke ein Riesen-Vakuum. Ich bin überzeugt, dass wir dieses Vakuum nun personenunabhängig füllen müssen.  In unserem Nachwuchsbereich zum Beispiel haben wir unsere Ausbildungs- und Spielphilosophie klar definiert, wir haben klare Richtlinien für den Umgang untereinander festgelegt, so dass nach meinem Ausscheiden der ganze Betrieb ganz normal weitergelaufen ist. Das ist dort sicherlich viel einfacher als im gesamten Verein, trotzdem sollte das unser Ziel sein.

Wie könnte das aussehen?

Die Basis für alles ist der Fußball. Und wir können mit Fug und Recht behaupten, dass wir den deutschen Fußball in den vergangenen 20 Jahren stark mitgeprägt und mitentwickelt haben mit unseren herausragenden Trainern. Aus dem Gedankengut dieser Trainerpersönlichkeiten hat sich in Mainz eine bestimmte Art von Fußball etabliert. Zudem hat sich in diesen Jahren in Mainz auch eine besondere Atmosphäre im Stadion und ein besonderer Umgang in und um den Verein entwickelt. Dies ist in den letzten zwei bis drei Jahren etwas verloren gegangen. Hier gilt es dran zu arbeiten. Wir müssen versuchen die Fans mehr mitzunehmen und ihnen diese Orientierung zu geben. Das lief bislang meist über Personen, jetzt muss es sich eben aus der Sache heraus erklären.

Ihre Trainer, die Sie angesprochen haben, sind ganz oben angelangt: Jürgen Klopp stand gerade mit Liverpool im Champions-League-Finale, Tuchel arbeitet nun in Paris. Von diesen Köpfen wollen Sie den Verein aber nicht unabhängig machen?

Nein, um Gottes Willen. Der Cheftrainer wird immer eine der prägenden Figuren im Verein sein. Entscheidend ist aber, dass der Trainer zum Verein und seiner Philosophie passt. Die ist die Basis für das gesamte Handeln. Wir haben zwar nicht die Tradition, die auf Meisterschaften oder Pokalsiegen basiert. Aber was uns ausmacht ist, dass wir permanent entwickeln: Unseren Verein, unsere Spieler und eben auch über unsere Toptrainer unseren Fußball. Hier konnten wir Vorreiter und beispielgebend sein, wir haben damit viele überrascht.

Ist das nun noch mal möglich?

Es wird immer schwerer, weil alles viel transparenter ist heutzutage. Jeder schaut genau, was der andere macht. Als Wolfgang Frank bei uns Mitte der neunziger Jahre die Viererkette eingeführt hatte, dauerte es immer noch zehn Jahre, bis sich das in ganz Deutschland endgültig durchgesetzt hatte. Bei der EM 2000 hat die deutsche Nationalmannschaft noch mit Manndeckern agiert. Heute ist die Entwicklung viel schneller, transparenter und globaler.

Bleibt Mainz 05 der Verein für Aus- und Weiterbildung?

Ja, das ist aus meiner Sicht unsere Nische. Aber auch hier müssen wir dranbleiben, die Entwicklung ist rasant. Wir haben uns auf die Fahne geschrieben unsere Nachwuchsausbildung noch stärker zu individualisieren. Mal schauen, wie sich das auswirkt. Insgesamt muss man feststellen, dass uns mittlerweile andere Länder wie England oder Frankreich weggelaufen sind. Dies gilt es generell zu analysieren, weshalb ist das so.

Mit Ridle Baku haben Sie eine der schönsten Geschichten der Bundesligasaison produziert, als er von der U23 an einer Autobahnraststätte abgesetzt wurde, um nachmittags zu einem Matchwinner bei den Profis zu werden im Spiel gegen Leipzig. Ein anderes Eigengewächs ist gerade mit Suat Serdar nach Schalke gegangen. Wie lange muss ein Nachwuchsmann denn in Mainz spielen, damit der Output für den Klub in Ordnung ist? Oder bemisst sich das nur an der Ablösesumme?

Wir wollen unsere Jungs natürlich auch bei uns in der Bundesliga spielen sehen, möglichst über viele Jahre. Wenn es uns gelingt jedes Jahr einen Spieler durchzubringen ist das in Ordnung. Alles Weitere liegt dann nicht ausschließlich in unserer Hand. Ich hätte Suat zum Beispiel geraten noch 34 Bundesligaspiele länger bei uns zu bleiben, ehe er den nächsten Schritt macht. Aber auf der anderen Seite sind sein Berater, finanzielle Verlockungen und der Anreiz Champions League zu spielen. Er hat sich für diesen Weg entschieden und traut es sich zu. Dann müssen wir das akzeptieren. Ridle Baku ist natürlich eine tolle Geschichte, er hat mit seinen Leistungen und Toren großen Anteil an unserer Rettung. Dies gilt es nun zu bestätigen.

Braucht Mainz 05 für die Identität des Klubs und die Identifikation der Fans mit dem Team Eigengewächse?

Grundsätzlich glaube ich sind solche Spieler gerade für einen Verein unserer Größenordnung identitätsstiftend. Auch langjährige Vereinszugehörigkeiten tun gut. Wir sind froh, dass wir Typen wie Stefan Bell oder Niko Bungert bei uns haben, sie leben diese Identifikation vor. Aber es geht auch anders: Ich war gerade beim Pokalfinale in Berlin. Eintracht Frankfurt hat nicht nur wegen des Pokalsiegs eine sensationelle Entwicklung genommen als gesamter Verein in den vergangenen Jahren. Und das mit einer Multikulti-Truppe mit Spielern aus einem Dutzend Ländern und wenigen, die seit Ewigkeiten in Frankfurt spielen. An Identifikation der Fans mangelt es der Eintracht aber gewiss nicht. Identifikation kann sich offensichtlich auch anders bilden.

Eine weitere Identifikationsfigur sitzt bei Ihnen auf der Bank: Der Trainer Sandro Schwarz ist ein echter „Meenzer Bub“, kam aus dem Nachwuchs und wurde Zweitligaspieler und durchlief als Trainer die Juniorenteams. Waren Sie erstaunt, dass die Fans ihn nicht so akzeptiert haben wie erhofft?

Ja, ich war erstaunt. Allerdings waren die Leistungen des Teams auch sehr schwankend und damit nicht vertrauensbildend. Zudem hätten wir Sandros Beförderung nachhaltiger kommunikativ begleiten müssen. Dadurch haben wir Sandro das Leben zusätzlich schwer gemacht. Ich hoffe, dass wir durch die letzten 8 Wochen im Abstiegskampf einige überzeugt haben. Aber ich bin Realist genug, dass es weiter ein Prozess bleibt und auch von Spielergebnissen abhängig sein wird. Wir sind davon überzeugt, dass Sandro der richtige Trainer für unseren Klub ist.

Hatten Sie diese Überzeugung tatsächlich zu jedem Zeitpunkt in der Rückrunde?

Natürlich war das eine Gratwanderung, bei extremem Gegenwind, wie wir ihn in Mainz bisher nicht kannten. Aber insbesondere Rouven war ja immer ganz nah dran, auch nach den Katastrophenspielen in Frankfurt  ist er in aller Sachlichkeit in die Analyse gegangen. Daraus ist die klare Erkenntnis gewachsen, dass wir mit Sandro die Sache durchziehen.

Hatten Sie bei dieser Gratwanderung stets die nötige Trittsicherheit oder waren Sie einfach wagemutig genug?

Das hat nichts mit Wagemut zu tun. In der Führung gilt es bei solch wichtigen Entscheidungen sich nicht treiben zu lassen oder gar aus der Emotion zu reagieren. Sachliche Analyse ist die Basis. Das haben wir getan. Natürlich haben wir nach der zweiten, ganz bitteren Niederlage in Frankfurt einen Knackpunkt gehabt, an dem wir im Klub natürlich wussten: Wenn ein Trainerwechsel noch irgendwie Sinn ergeben soll, dann müssten wir jetzt handeln acht Spieltage vor Schluss. Es wurde offen, ausführlich und hart analysiert. Das Ergebnis war eindeutig: Rouven war, insbesondere auch nach den Gesprächen mit dem Spielerrat, der Auffassung, dass wir die Situation mit Sandro regeln können. Der Verein hat das natürlich mitgetragen.

Wer hat das mitgetragen?

Der Vorstand mit Rouven, Jan Lehmann und mir und auch unser Aufsichtsrat hat sich ebenfalls komplett zu dieser Entscheidung bekannt. Innerhalb unseres Vereins waren wir uns einig, dass wir den Weg notfalls auch in die zweite Liga zusammen mit Sandro gehen. Dadurch hatten wir Klarheit, die uns Stärke gebracht hat im Saisonendspurt.

Sie sind gerade einmal viereinhalb Monate im Amt. Kommt es Ihnen auch schon viel länger vor?

Ja, das ist tatsächlich so. Gefühlt reichen die Erlebnisse dieser viereinhalb Monate für eine ganze Saison. Das ist schon irre, wenn man mal so zurückblickt. Es ist extrem viel passiert in sehr kurzer Zeit.

Man sagt, dass Sie Gräben zugeschüttet haben beispielsweise zwischen Schröder und dem Aufsichtsratsvorsitzenden Höhne. Stimmt das so?

Es ist viel Vertrauen gewachsen bei uns im Verein. Natürlich war es schwierig zu Beginn: Die Wahl des Vorsitzenden wurde zu einem Machtkampf stilisiert und auf meine Mitbewerber projiziert. Mein Vorteil war, dass ich recht unvorbelastet war. Nach meiner Wahl habe ich mir dann selbst ein Bild verschafft vom Verein und den neuen Gremien. Meine Erkenntnis: Die Wahrheit liegt immer irgendwo in der Mitte. Ich habe von Beginn an relativ unvoreingenommen  den Fokus darauf gelegt die Gremien zusammenzuführen. In unserem Aufsichtsrat sitzt sehr viel Kompetenz, die für die Fortentwicklung unseres Vereins wichtig ist. Der Abstiegskampf hat uns dann noch enger zusammenrücken lassen. Positiv war auch, dass ab Februar mit der Bestellung von Jan Lehmann zum kaufmännischen Vorstand, unser Vorstand erstmals in der neuen Vereinsstruktur komplett und richtig handlungsfähig war. Dadurch hatte Rouven Schröder endlich den Rücken frei.

Mainz 05 dürfte im Sommertransferfenster enorme Einnahmen erzielen.  Nach Suat Serdar scheinen auch Gbamin, Diallo und Muto sehr begehrt zu sein, vor allem auch bei den finanzstarken englischen Premier-League-Klubs. Was macht Mainz 05 mit dem vielen Geld?

Erstmal sind die Jungs ja noch nicht weg und ich glaube das Transferfenster wird noch die ein oder andere Überraschung oder unerwartete Wendung bereithalten. Sollten wir Erlöse erzielen, werden wir natürlich einen großen Teil wieder in die Mannschaft investieren. Wir haben bisher Suat Serdar verkauft und Philipp Mwene  ablösefrei  verpflichtet. Alles weitere hängt davon ab, was im Sommer noch passiert. Das ist für Rouven Schröder keine einfache Zeit,  es erfordert strategisches Geschick um die sportlichen und wirtschaftlichen Ziele in Einklang zu bringen. Wir haben sehr  talentierte Spieler, für die ein Markt da ist, aber wir sind entspannt: Wir haben das Heft des Handelns in der Hand, zumal wir das laufende Geschäftsjahr abermals mit einem Gewinn abschließen werden. Parallel dazu müssen wir unsere Rahmenbedingungen weiter verbessern. Wir bauen für dreieinhalb Millionen Euro am Bruchweg neue Trainingsplätze, wir müssen unsere Flutlichtanlage nachrüsten und wir denken über einen neuen Kraftraum im Trainingszentrum nach. Entwicklung ist unser Kerngeschäft.